Trailrunning

November 11, 2020

Nach über zwei Wochen Traillauf-Pause ist die Sehnsucht riesengroß. Alles Mögliche schwirrt in meinem Kopf herum – Fragen, Zweifel, Perspektiven. Es fehlt etwas Essentielles, um vollständig zu sein. Ich bin nicht bei mir selbst, fühle mich nicht wohl, getrieben von innerer Unruhe und einer gewissen Planlosigkeit. In dieser Gefühlslage will ich keine neue Strecke ausprobieren, ich laufe einen meiner Lieblingstrails, um wieder zu mir zu finden. Trailschuhe an, Rucksack geschultert – los geht‘s!

Nach wenigen Minuten bin ich im Wald und tauche ein in die Ruhe. Mit allen Sinnen inhaliere ich die klare Luft des Waldes, das sanfte Rauschen und Rascheln der Blätter im Wind, das Zwitschern der Vögel, das leise Trappen meiner Füße am Boden. Trail-Running ist überall, wo der Asphalt in die Sackgasse führt und die Natur dich empfängt. Es ist wie ein Heimkommen, Aufatmen, Frei-Werden. Bald führt mich der schmale Trail steil bergauf, mein Puls schnellt in die Höhe, ich höre meinen Atem rasen, höre mein Herz heftig schlagen, spüre, wie mein ganzer Körper arbeiten muss, um hinauf zu streben, und ich lache dabei – genau das ist es, was ich will – mich selber spüren, voll und ganz, von den Zehenspitzen bis zum Scheitel. Eine Zeit lang fand ich es motivierend, mit Musik und Kopfhörern zu laufen, jetzt verstehe ich nicht mehr, wie ich meine Ohren verstopfen konnte, um die Ruhe auszusperren, warum ich Ablenkung suchte, um Fokus zu gewinnen. Doch auch das kann sich wieder ändern.

Herbstlicher Wald

Nach den ersten 600 Höhenmetern Anstieg verläuft die Strecke mehrere Kilometer flach eine Forststraße entlang. Das gleichmäßige Laufen ist angenehm zum Erholen, bevor die nächste Bergwertung beginnt. Jetzt die letzten 200 Höhenmeter bergauf, dann noch über vier enge Holzleitern auf die Aussichtswarte geklettert, und schon werde ich mit einer fantastischen Fernsicht belohnt. Zu jeder Jahreszeit ist es hier wunderbar zu sehen, wie sich die Natur verändert in ihrem ewigen Kreislauf, und diese Veränderung das einzige ist, was Beständigkeit hat. Einmal im Winter war es fast am schönsten – ich begann die Tour unten bei dichtem, finsteren Nebel, der selbst den Wald in Schleiern erfüllte und auf den Ästen der Bäume zarten Raureif wachsen ließ. Nur 100 Meter unterhalb der Warte hörte die Nebeldecke plötzlich auf, und ich tauchte aus der Finsternis des Nebels unerwartet in den hellen Himmel ein. Ganz oben von der Warte hast du nur vom Raureif silberne Baumwipfel gesehen, die vereinzelt aus dem weiten, weißen Nebelmeer heraus ragten. Jetzt wärmt mich die warme Frühlingssonne und lädt ein, noch länger zu bleiben. Das Schöne am Trainieren ist, mehr Zeit zum Genießen zu haben. Dafür wächst du im Wettkampf über dich hinaus, und schaffst, was du dir vorher nie zugetraut hättest. Ich denke an meine Ziele für die kommende Saison, denke an die Höhepunkte des letzten Jahres: den Ötscher, wenn du am Kamm den rauen Fels unter deinen Händen spürst, den Mozart, wenn du nach 100km die Stufen des Kapuzinerbergs hinunter springst und dich der Stolz die letzten Kilometer wie von allein ins Ziel laufen lässt, an den GGUT, wenn du aus dem Staunen an den hoch erhabenen Bergen nicht herauskommst und im Schatten ihrer Größer wieder lernst, wie klein du wirklich bist. Tief eingeprägte Bilder, die du – einmal erfahren – nie vergisst.

Nun ist es an der Zeit, weiterzulaufen – außerdem jetzt kommt das Beste: bergab! Bergab zu laufen ist wie ein unrhythmisch rhythmischer Tanz. Du musst den Takt an den Trail anpassen, nicht umgekehrt. Zwei schnelle, kurze Sprünge, einmal lang und weit, dann wieder kurz kurz kurz, lang, laaaang, trip, trap über Wurzeln, Steine, einen Baumstamm – es fetzt dahin, ich könnte schreien vor Freude und tu’ es auch. Doch dann – plötzlich: ich bleibe an einer Wurzel hängen, stolpere, überschlage mich und bleibe einen Moment benommen am Rücken liegen. Aua! Ein spitzer Stein sticht mir in den Rücken. Knie und Ellbogen sind blutig aufgeschürft, und die neue Hose hat ein großes Loch. Aufgestanden, kurzer Test, alle Glieder durchgeschüttelt: keine Schmerzen und alles funktionstüchtig, weiter geht‘s! Nur vielleicht etwas vorsichtiger.

Jeder Trail ist wie ein Lebenslauf in Kurzformat: es geht bergauf, es geht bergab, oft auch monoton und flach dahin, manchmal plagst du dich vom Anfang bis zum Ende, manchmal läuft es mit unverhoffter Leichtigkeit, und nicht zu selten kommst du ins Straucheln und Stürzen: ob du viel Zeit mit jammern verbringst oder gleich aufstehst und weiter läufst, ist deine Entscheidung. Und: du kannst nie wissen, was dich erwartet.

Die letzten Kilometer führen mich flach zurück - ein wunderschöner Genusstrail zum Auslaufen. Vieles, was vorher verworren und chaotisch war, hat sich langsam in meinem Kopf zur Ordnung gefügt oder zumindest relativiert. Vieles, was mich vorher nicht loslassen wollte, hab‘ ich im Wald ver-laufen. Zwei Stunden Trailrunning, und ich bin wieder bei mir angekommen.

Herbstlicher Wald