May 1, 2020
Corona hat viele aus der gewohnten Bahn geworfen, uns Läufer aus der gewohnten Laufbahn. Keine Wettkämpfe, keine gemeinsamen Trainingsläufe, keine Ziele, die man mit dem Trainingsplan erreichen kann, keine neuen Bestzeiten, keine noch längeren Ultra-Bewerbe, keine Pasta-Party, keine Siegerehrung, keine Startnummern- und Zieleinlauffotos, die man posten kann, keine „Wettkampf-Stories“, die man erzählen, keinen Renn-„Status“, den man updaten kann. Ein Event nach dem anderen wurde abgesagt, und auf einmal ist der Kalender an den Wochenenden leer. Dabei wären wir doch alle 2020 ganz bestimmt in unserer einmaligen Bestform.
Nichts ist mehr so wie zuvor, sobald die Strukturen wegfallen, die wir seit jeher gewohnt sind. Was soll ich jetzt tun mit meiner Zeit? Macht Laufen überhaupt noch Sinn? Wohin mit meinem Ehrgeiz? Das Feld der Läufer hat sich zu Corona-Beginn bei diesen Fragen gespalten: die einen haben ihre Laufschuhe in Quarantäne gestellt und sind in ein Loch gefallen, sobald jegliche Motivation von außen gestrichen war, die anderen entdeckten in sich selbst eine innere Motivation, die sie mit Fragen erst gar nicht quält, sondern einfach zum Laufen bringt und am Laufen hält. Die einen machen Corona, den Shut-Down und die Politiker dafür verantwortlich, wenn sie 10 Kilo zugenommen und an körperlicher Fitness drastisch abgenommen haben, die anderen fühlen sich nach 2 Monaten Corona-Normalität gesünder und ausgeglichener als je zuvor, selbst wenn sie vor dem finanziellen Ruin stehen. In welcher Weise wir in dieser Situation mit uns selbst umgehen, wie wir die Zeit nutzen oder vergeuden, und ob wir uns zumindest bemühen, das Beste daraus zu machen, dafür ist jeder einzelne für sich selbst verantwortlich. Daran ändert kein Jammern etwas und auch das Suchen von Sündenböcken nichts. Selbst in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und social distancing konnten wir Läufer dankbar sein für „unseren“ Sport, der sich im Vergleich zu anderen Sportarten sehr gut alleine, im Freien, in der Natur und relativ ungefährlich ausüben lässt. Der, dessen Herzblut am Bouldern, Schwimmen, Gewichte-Stämmen im Fitnesscenter hängt, hat(te) deutlich länger zu warten. Manch einer hat in den letzten Monaten vielleicht sogar deshalb zum Laufen begonnen und daran Freude gefunden.
Krisen und ungewollte Veränderungen sind schmerzhaft. Wir wollen keine Unsicherheiten in unserem Leben, schon gar nicht, wenn wir mit dem aktuellen Zustand zufrieden sind oder zumindest glauben es zu sein. Auf einmal gezwungen zu werden, Gewohntes in Frage zu stellen, macht uns Angst. Plötzlich in unserer (Bewegungs-)Freiheit drastisch eingeschränkt zu werden, macht uns noch mehr Angst. Gerade hier kann Laufen und jegliche Art von körperlicher Bewegung Stabilität, Sicherheit und Hoffnung geben: ein, zwei Stunden (oder länger…) hinaus, in die Natur, ins Freie, den Körper spüren, sich selber wieder ganzheitlich wahrnehmen, laufen, wandern, spazieren gehen, neue Wege und Laufstrecken ausprobieren, und dankbar sein, dass du laufen kannst, dich bewegen darfst und gesund bist. Umso mehr weiß man es nach zwei Monaten schließlich zu schätzen, wieder mit den „alten Lauffreunden“ auf der Strecke zu sein. Vieles, was schlichtweg „selbstverständlich“ gewesen ist, hat seinen Wert gezeigt, den wir vielleicht schon vergessen haben.
Krisen sind schmerzhaft. Dennoch liegt es an uns selbst, sie auch als Chance zu sehen: wir können die Zeit nutzen, um lang Aufgeschobenes zu erledigen und Neues zu versuchen, wir können uns von Gewohnheiten trennen, die wir schon immer loswerden wollten, wir können uns selbst besser kennenlernen, indem wir uns darauf einlassen, die eigenen Motivationsgründe zu hinterfragen, und konkret beim Laufen, um den inneren Beweggrund (wieder) zu finden: ich laufe, weil es mir gut tut, ich laufe, weil es mich glücklich macht, ich laufe, weil ich mich gern anstrenge, ich laufe , weil es mir sonst abgeht, ich laufe, weil ich dabei ich selbst sein kann, ich laufe, weil … ich laufe.
Auch wenn wir es am Anfang nicht glauben konnten – die Zeit ist vergangen, die Wochenenden sind ohne (nicht virtuelle) Wettkämpfe vergangen, und wir laufen immer noch (und wenn nicht: ist es höchste Zeit wieder damit zu beginnen …). Vielleicht nehmen wir nächstes Jahr freiwillig an weniger Wettbewerben teil, weil uns anderes wichtiger geworden ist. Ganz gewiss ist: wenn wir bei unserem „ersten“ Bewerb nach der Krise an der Startlinie stehen, aufgeregt, dass es endlich losgeht, und uns freuen, wenn wir verschwitzt und glücklich ins Ziel einlaufen, werden wir dieses Gefühl umso bewusster, intensiver und hoffentlich auch dankbarer erleben.
Krisen sind schmerzhaft, aber es liegt an dir, sie zu etwas Positivem zu machen; auch wenn es nicht immer und sofort gelingt.