Krieg - Laufen unter Beschuss

October 8, 2023

Kriegsausbruch

Samstag 6:30 Uhr - eigentlich wollten wir heute keinen Wecker stellen und ausschlafen, dafür weckt uns diesmal die Sirene des Alarms. Schnell wecke ich Markus auf, wir packen unsere schlafende und daraufhin weinende Tochter und begeben uns in den “Mamad”, den Schutzraum in der Wohnung. Die meisten der neueren Appartements in Tel Aviv haben einen Bunker, entweder direkt in der Wohnung oder zumindest am Gang für mehrere Parteien gemeinsam.

Wir bleiben einige Minuten im Raum, bis es wieder ruhiger wird. Laura weint - sie kennt sich natürlich nicht aus, warum wir sie aus ihrem Schlaf gerissen haben. Sie schläft zum Glück nochmal ein und Markus beschließt - schon einmal wach - eine Runde laufen zu gehen.

Die Israelis haben ein App “Red Alert”, sie zeigt an, wenn Raketen aus Gaza abgeschossen werden, in welchem israelischen Gebiet sie ankommen (bzw. im besten Fall vorher vom Abwehrsystem Iron Dome abgefangen) werden und wieviel Zeit man hat, um sich jeweils in Sicherheit zu verbrigen. Tel Aviv ist ca. 70km nördlich von der Grenze zu Gaza, hier sind es ca. 90sec., bei den Orten direkt an der Grenze ca. 10-15sec. Ein Blick auf die App zeigt, dass momentan ordentlich geschossen wird. Auch von unserem Balkon mit Blick Richtung Süden sieht man die Streifen der Raketen am Himmel. Bald folgt der nächste Alarm in unserem Gebiet, ich wecke Laura wieder auf und trage sie in den Schutzraum. Markus hat seine Laufrunde auch abgekürzt, selbst wenn man “nur” in der Ferne die Raketen fliegen sieht, ist es kein entspannendes Laufgefühl.

Alarme sind in Israel keine Seltenheit, auch wir haben schon mehrmals welche erlebt. Ist man in der Wohnung, zieht man sich am besten in den Mamad, den Schutzraum, zurück, ist man im Freien, sucht man entweder rasch einen öffentlichen Schutzraum auf oder flüchtet sich zum nächsten schutzbietenden Platz. Auf der einen Seite kam es diesmal sehr überraschend, auf der anderen Seite beginnt das Ganze an einem symbolischen Tag: 50 Jahre und einen Tag nach dem Yom Kippur Krieg und an einem Feiertag, dem Shabbat nach dem Sukkot-Fest.

Ein Blick in die israelischen Nachrichten zeigt uns nicht sofort das Ausmaß der Situation und welche Horror-Szenarien sich in der Zwischenzeit im Süden an der Grenze zu Gaza abspielen. Alles hat wohl erst mit dem Hahnenschrei begonnen. Nach und nach folgen die Schlagzeilen, dramatischen Bilder und Live-Berichte.

Nach dem Frühstück möchte Markus etwas einkaufen - die Straßen sind menschenleer, fast alle Geschäfte gschlossen, zwar am Shabbat nicht ungewöhnlich, aber gerade am Nahe gelegenen “Shuk Pischpischim”, dem Flohmarkt, wimmelt es um dieses Zeit in den Lokalen von Frühstücksgästen. Laura und ich bleiben daheim, permament hört man es in der Ferne “Bumpern” und auch auf Red Alert gibt es keine Pause an Meldungen. Irgendwie schräg, dass in Österreich an diesem Tag der Zivilschutz-Alarm getestet wird. 70km südlich von uns hört die Sirene für die Einwohner wohl gar nicht mehr auf.

Am Vormittag gehe ich ins Gym unserer Wohnanlage: wie ausgestorben. Normalerweise ist am Samstag Vormittag ein reges, sportliches Treiben. Alle verfolgen gebannt in den Wohnungen die Nachrichten oder warten auf den nächsten Alarm. Auch wir verbringen den Großteil des weiteren Tages trotz schönen Sommerwetters drinnen, versuchen unsere Tochter bei Laune zu halten und verfolgen die Nachrichten. Eigentlich hätten uns Freunde besucht, doch der Sohn, der derzeit bei der Armee ist, wurde ebenfalls einberufen. Markus hat ohnehin viel zu tun. Als Wirtschaftsdelegierter wenden sich sowohl viele Österreicher, die sich im Land aufhalten, an ihn, als auch die österreichische Presse.

Als wir am Nachmittag noch in die kleine Parkanlage zum Roller-Fahren und Ball-Spielen gehen, treffen wir auch einige unserer israelischen Nachbarn, die sich “raus trauen” und Pause von den Nachrichten brauchen. Alle sind schockiert und betonen, dass sich eine noch nie dagewesene Situation abspiele: hunderte Tote, ein richtiges Niedermetzeln in den Kibbuzim (ländliche Kollektivsiedlungen) an der Grenze zu Gaza, verschleppte Kinder, Frauen, Geiseln und bei allem noch lange kein Ende in Sicht. Auch hier in Jaffa, wo bislang großteils ein friedliches Zusammenleben von Arabern und Israelis funktioniert hat, sei jederzeit mit Gewaltausschreitungen zu rechnen. Es sei nicht ratsam, große Spaziergänge zu machen. Über uns fliegen unterdessen durchgehend Militär-Flugzeuge und Hubschrauber.

So vergeht der Tag, an dem einem nicht viel anderes übrig bleibt als zu warten. Als wir unsere Tochter gerade ins Bett bringen wollen, kommt wieder ein Alarm, wir gehen in den Schutzraum, danach wieder raus… wieder Alarm, hinein, hinaus etc. Wir legen Matten auf den Boden und stellen uns darauf ein, die ganze Nacht im Mamad zu verbringen, auch wenn Laura weinend nach ihrem Bett verlangt. Überraschenderweise bleibt es danach bei uns ruhig, und wir können glücklicherweise alle gut schlafen.

Sonntag 6:30 Uhr - kein Alarm, kein Wecker. Auch wenn Sonntag Früh mein Lieblings-Lauftag ist (wenig Leute auf der Strandpromenade und kein Stress, da Markus frei hat), verzichte ich heute auf meine Runde. Wir schlafen mehr oder weniger aus, schauen die updates in den Nachrichten. Die Zahlen der Toten steigen immer mehr an, und ich merke schnell, dass es nicht gut ist, zu viel der furchtbaren Videos auf diversen social media zu “konsumieren”.

Nach dem Frühstück gehen wir gemeinsam zum Einkaufen hinaus. Es herrscht eine bedrückende Stille. Obwohl Sonntag hier ja eigentlich ein Arbeitstag ist, sind kaum Autos und Leute auf den Straßen unterwegs und fast alle Lokale haben nach wie vor geschlossen. Abu Hassan, unser liebstes Hummus-Geschäft, hat geöffnet, normalerweise tummelt es hier um diese Uhrzeit von Leuten, die das deftige “Msabbaha” (warmer Hummus mit ganzen Kichererbsen) genüsslich bereits zum Frühstück mit Pita verzehren. Alle Araber sind hier immer sehr freundlich, heute sind alle sehr bedrückt und verrichten mit Tunnelblick ihre Arbeit.

Wir erledigen unsere weiteren Einkäufe und verbringen noch einige Zeit am Spielplatz, bevor wir wieder nach Hause gehen. Auch der Nachmittag verläuft bei uns zum Glück ohne weitere Alarme. In der Ferne hört man jedoch immer wieder Detonationen, und die Militär-Helikopter fliegen ohne Unterlass, vermutlich einerseits zum Einsatz, andererseits um Leute aus dem Süden zu evakuieren.

Mittlerweile herrscht die durchgehende Einschätzung, dass dieser Krieg länger als ein paar Tage dauern wird. Es bleibt nicht viel übrig, als abzuwarten, Ruhe zu bewahren und unserer Tochter trotz allem das Gefühl der Sicherheit zu geben.