October 12, 2023
Dienstag 8:00 Uhr Es regnet leicht, die Morgenluft ist herbstlich frisch, ich laufe daheim in Fels durch die Weingärten. Noch viele Trauben hängen prall und taufrisch an den Weinstöcken, die Blätter leuchten in bunten Herbstfarben. Ich fühle mich, als wäre ich über Nacht in einer Parallelwelt gelandet. Der krasse Szenenwechsel kommt mir surreal vor, während sich in meinem Kopf die letzten 24 Stunden nochmals abspielen.
Montag 6:30 Uhr Ich stelle mir den Wecker und gehe ins Gym trainieren, am Strand laufen möchte ich nicht. In den Nachrichten steigen die Todeszahlen von Israelis und Palästinensern immer mehr an. Immer schockierender werden die Details der Massaker, die die Terroristen verübt haben. Unvorstellbar, wie man dazu fähig sein kann - bar jeder Menschlichkeit - Kinder, Babies, alte Menschen, einfach jeden, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist, niederzumetzeln.
Nach dem Frühstück geht Markus ins Büro, ich mit unserer Tochter zum Babypool, der heute wieder geöffnet ist - mit Vorbehalt, solange ein Alarm kommt. Zum Glück hat Laura mit ihren fast 2 Jahren noch nicht allzu viel Verstörendes mitbekommen, sie spielt zufrieden mit ihren Kübeln und Schaufeln am Wasser - eine scheinbar friedliche Idylle. Das Grollen der Raketen in der Ferne und die Hubschrauber erinnern daran, dass sie trügerisch ist. Kurz vor Mittag gehen wir in die Wohnung, ein Blick auf Red Alert zeigt, dass momentan wieder einige Raketen in den näheren Umkreis von Tel Aviv und auch des Flughafens geschossen werden. Ich stehe am Balkon und habe Angst - um meine Tochter, um meine Familie. Gleichzeitig versuche ich mir von Laura nichts anmerken zu lassen.
Nach dem Essen fällt sie rasch in ihren Mittagsschlaf. Ich warte immer noch auf Benachrichtigung, ob unser Flug am nächsten Tag mit der AUA stattfinden wird oder nicht. Der Flughafen ist nicht geschlossen, auch wenn sehr viele Flüge abgesagt werden oder nur mit großer Verspätung stattfinden. Intuitiv nutze ich die Zeit, während mein Kind schläft, um ein kleines Handgepäcksköfferchen herzurichten: hauptsächlich gefüllt mit Lauras aktuell passenden Kleidungsstücken, ein bisschen Proviant, ausreichend Windeln und von meinen eigenen Sachen…? Wann kommen wir wieder zurück? Worauf möchte ich nicht verzichten? In diesem Moment wird mir sehr deutlich bewusst, wie wertlos doch das meiste ist, was wir besitzen. Selbst manches Schmuckstück hat seinen wahren Wert dadurch, dass ich es von Markus zu einem Anlass geschenkt bekommen habe und es mit Erinnerungen verbunden ist. So wird das Köfferchen nicht einmal ganz voll.
Um 13:30 Uhr die Bestätigung - die AUA fliegt nicht und voraussichlich bis zum Wochenende nicht mehr. Dann ging alles sehr schnell. Ich schaue, welche Alternativen es gibt, um das Land zu verlassen. Selbst wenn nicht nach Wien - einfach nur raus. Auf der Homepage des Ben Gurion Airports sind alle Flüge des Tages gelistet, der Großteil rot und gecancelt, einige verspätet, und dann einer um 15:55 Uhr mit EL AL nach Wien und sogar on time. Kurz bin ich dabei, die Hoffnung gleich wieder aufzugeben, das geht sich niemals aus! Doch dann schaue ich auf die Homepage der Airline und sehe, dass der Flug noch buchbar ist. Und vielleicht hat er ja doch Verspätung… Markus am Telefon: ich solle buchen, er komme in der Zwischenzeit aus dem Büro. Kurz vor dem Zahlungsvorgang…. Error! Try it again! zurück an den Start… das ganze nochmal… Error! Ich bin schon wieder am Resignieren, in der Zwischenzeit ist Laura aufgewacht und bekommt ein Eis zur Beschäftigung, während ich es ein drittes Mal probiere und wie durch ein Wunder beim letzten Schritt des Bezahlens ankomme. Ticket gekauft, Markus da, Kind und Koffer ins Auto, wir fahren los, während der Fahrt checke ich uns ein und wir kommen kurz vor 15 Uhr am Flughafen an. Laura und ich steigen gleich beim Eingang aus, während Markus noch einen Parkplatz sucht.
Am Flughafen von Tel Aviv ist immer sehr viel los. Oft braucht man vorher wirklich 3 Stunden, da jeder ausländische Passagier zuerst die Sicherheitsbefragung passieren muss. Diesmal ist die Abflugshalle voll von Menschen, die schon stundenlang warten, ihren Schalter suchen, verzweifelt vor den Anzeigetafeln stehen, sich am Info-Schalter anstellen, oder einfach nur irgendeinen Flug aus dem Land bekommen wollen. Dann sehe ich “meine” lange Schlange der Handgepäckspassagiere und habe wieder einen kurzen Moment der Resignation - das geht sich niemals aus… Entschlossen schiebe ich Kinderwagen und Trolley an der Schlange vorbei, bis ganz an den Anfang zum Schalter nach vor. “My flight is in 30 minutes” sage ich als Entschuldigung und werde überraschenderweise tatsächlich als nächste drangenommen. Dann weiter zum Sicherheitscheck. Zum Glück kommt Markus noch rechtzeitig, sodass wir uns kurz verabschieden können. Ich kämpfe sehr damit, nicht loszuheulen, aber ich möchte meine Tochter nicht irritieren, die vom bunten Treiben am Flughafen zur Zeit gut abgelenkt wird.
Nach der Security noch eine letzte Ausreise-Passkontrolle und dann sind wir tatsächlich am Gate. Unser Flug steht noch immer auf der Anzeige, ist nicht gecancelt und noch nicht einmal verspätet. Ich kann es fast nicht glauben, dass wir es in so kurzer Zeit bis hierher geschafft haben. Der Flieger ist nicht einmal voll. Wir warten noch eine Stunde auf Fluggäste von einem abgesagten Flug, dann sind wir auf der Rollbahn und verlassen Israel.
Dienstag 8:30 Uhr Es tut gut zu laufen, es tut gut, die Gedanken und Bilder in meinem Kopf mit Bewegung zu verbinden. Ich denke an meinen Mann, der noch in Tel Aviv im Arbeitseinsatz ist, bis Mitternacht Auslandsösterreicher für die Evakuierungsflüge kontaktiert und telefonisch betreut. Trotzdem hoffe ich, dass er bald selbst in einem Flieger zu uns unterwegs sein kann. Ich denke an unsere Freunde und Nachbarn, die über verstorbene oder vermisste Angehörige trauern, an Läuferfreunde, die posten, wie sie am selben Tag Laufoutfit gegen Uniform tauschen, und ich ärgere mich, über welche Banalitäten wir uns oft aufregen, wenn wir doch rein darüber glücklich und dankbar sein können, in Sicherheit und Frieden zu leben.